'Migrationsdruck' bezeichnet eine Situation, in der eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen eintrifft, oder in der die Gefahr einer solchen Ankunft besteht
EU Kommission in Vorschlag 45 des neuen Migrationspaktes
Der Pakt beruht auf der Vorstellung, Migration sei eine Belastung für Gesellschaften und überfordere diese. Gerade im Zuge der Corona-Pandemie hat sich jedoch gezeigt, dass Betriebe (insbesondere im Baugewerbe und in der Gastronomie) auf grenzüberschreitende Mobilität angewiesen sind [1]. Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit üben verhältnismäßig öfter systemrelevante Berufe aus als deutsche Staatsangehörige. Ein großer Teil der Menschen die 2015 als Geflüchtete in Deutschland angekommen sind hat Positionen auf dem Ausbildungs-und Arbeitsmarkt eingenommen, die händeringend gesucht wurden [2].
«Obwohl die Zahl der Menschenzurückgegangen ist, die in den vergangenen Monaten versucht haben, das Mittelmeer zu überqueren, ist die Zahl der Toten auf dem Meer gestiegen. Die Verantwortung für die steigende Zahl der Toten liegt direkt bei den europäischen Regierungen, denen es wichtiger ist, Menschen vor Europas Grenzen abzuhalten, als Leben zu retten» - Matteo de Bellis, Experte für Asyl und Migration bei Amnesty International
Die Idee einer 'sponsorship' für Abschiebungen ist schlechthin abenteuerlich. Wird Deutschland etwa demnächst abgelehnte afghanische Asylbewerber*innen nach Ungarn schicken – einem Land, das bereits wegen erheblichen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik steht –damit sie von dort abgeschoben werden?" - Migrationswissenschaftlerin Sabine Hess [7]
"Die EU wird auf gezielte und für beide Seiten vorteilhafte Partnerschaften mit Drittstaaten hinarbeiten." - EU-Kommission zum Migrationspakt
Der Pakt sieht vor, verstärkt Abkommen mit Staaten abzuschließen, aus denen viele Migrant*innen kommen. Diese Art von Zusammenarbeit gibt es bereits. Sie ist allerdings einseitig auf die Verhinderung irregulärer Migration und die Rückkehr unerwünschter Migrant*innen ausgerichtet.
Das Hauptanliegen der Herkunftsländer, mehr legale Einreisemöglichkeiten in die EU zu schaffen, wird dagegen kaum berücksichtigt [8]. Auch Entwicklungsgelder werden vermehrt zur Verhinderung irregulärer Migration eingesetzt. Dies zeigt zum Beispiel der EU Emergency Trust Fund for Africa: über 50% dieser Gelder wurden für Rückkehrförderung, den Kampf gegen irreguläre Migration und Fluchtursachenbekämpfung eingesetzt - nur 1% dagegen für die Förderung legaler Migrationswege.
"The EU's new migration pact will put an end to overcrowded refugee camps like the fire-hit one on the Greek island of Lesbos." - Yvla Johansson, EU Kommissarin für Migration und Inneres [10]
Neben der bekannt desaströsen Lage in Moria werden auch in anderen Regionen an den EU-Außengrenzen Menschen ohne ausreichend gesundheitliche Versorgung, rechtliche Unterstützung und unter katastrophalen Bedingungen in Lagern festgehalten. Der neue Pakt sieht vor, dass Schutzsuchende an den Außengrenzen sogenannte “pre-entry Screenings” durchlaufen und dabei im Schnellverfahren die abgeschoben werden, die nach Einschätzung der Grenzbeamt*innen keine Chance auf Asyl haben. Für Asylsuchende, die aus Ländern kommen, aus denen weniger als 20% Asylbekommen, soll ein Schnellverfahren zukünftig verpflichtend werden.
Damit wird auf EU-Ebene eine Praxis institutionalisiert, die bereits fester Bestandteil der deutschen Asylpolitik ist. Auch in Deutschland ist der Zugang zu bestimmten sozialen Rechten und zu Rechtsmitteln im Asylverfahren von der statistischen Anerkennungsrate für den jeweiligen Herkunftsstaat von Asylsuchenden abhängig. Hier ist in dem Zusammenhang von „geringen“ oder „guten Bleibeperspektiven“die Rede.
„Dieser Pakt wird nicht dazu beitragen, das Leid Tausender Menschen zu lindern, die in Lagern auf den griechischen Inseln oder in Gefangenenlagern in Libyen festsitzen.“ - Eve Geddes, Amnesty International
Expert*innen befürchten, dass rechtsstaatliche Prinzipien in den Schnellverfahren nicht gewährleistet werden können. Schnellverfahren steigern das Risiko, dass Asylsuchende zu Unrecht abgelehnt und abgeschoben werden [5]. Anwält*innen, NGOs und Medienvertreter*innen haben einen sehr viel geringeren Zugang zu den Grenzräumen als in regulären Prozeduren und können dadurch nicht unterstützend und regulierend mitwirken. Dies kann dazu führen, dass internationale, europäische und nationale legale Rahmenbedingungen nicht eingehalten werden [11]. Die Anerkennungsraten bestätigen diese Befürchtung:
Die Chance auf Asyl ist bei einem normalen Verfahren 20% höher als bei Verfahren, die bereits in den Grenzregionen stattfinden [12].
Im Krisenfall kann die Dauer der Inhaftierung in Grenzgefängnissen auf 10 Monate verlängert werden. Es wird den EU-Mitgliedsstaaten überlassen, wie sie Asylsuchende in diesem Zeitraumunterbringen. Entgegen der Argumentation der EU-Kommission befürchten Jurist*innen, dass der Pakt zu vermehrter und langfristigerer Lagerunterbringung und einer Verstärkung von Inhaftierung führt, wobei die Einhaltung von Menschenrechten nicht gewährleistet werden kann [14].
“Die geplanten Lager werden Orte der Inhumanität, Gewalt und Rechtlosigkeit sein. Ein faires Asylverfahren kann dort nicht stattfinden. Moria 2.0 droht, dieses Mal an vielen Orten!” - Pro Asyl [13]
"Die Kommission muss sicherstellen, dass schnelle und faire Verfahren nicht nur auf dem Papier bestehen" Prof. Daniel Thym (SVR) [15]
Anstatt neue Verfahrensregeln aufzustellen, sollte die EU sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten bereits geltende (menschen-) rechtliche Standards einhalten. Dies könnte durch einen EU-finanzierten, unabhängigen Grenzüberwachungs-Mechanismus umgesetzt werden, der sich auf etablierte Menschenrechtsinstitutionen stützt und sicherstellt, dass die Verfahren rechtmäßig ablaufen und es keine Grundrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen gibt.
„Wenn Asylsuchende weiterhin an der Weiterreise in andere europäische Länder gehindert werden, werden Lager wie Moria zu einem integralen Pfeiler der zukünftigen EU-Asylpraxis“
MPI (Migration Policy Institute) - eigene Übersetzung [16]
Beschleunigte Grenzverfahren und „Screenings“ werden zur Entstehung von mehr Lagern wie Moria führen. Um eine unmenschliche Unterbringung von Geflüchteten an den Außengrenzen zu verhindern, muss die EU sich dafür einsetzen, dass Geflüchteten die Weiterreise von den griechischen Inseln oder anderen Hotspots an den Außengrenzen auf das europäische Festland und andere EU-Staaten ermöglicht wird. Lokale Verwaltungen und zivilgesellschaftliche Bewegungen zeigen, dass eine Aufnahme von Geflüchteten vielerorts möglich und erwünscht ist. Die EU sollte eine zügige Verteilung von Geflüchteten auf die Mitgliedstaaten vorantreiben und unsolidarische Staatenvermehrt unter Druck setzen.
„Für eine Zusammenarbeit mit Drittstaaten auf Augenhöhe muss die EU den Vorrang von Rückkehr-Kooperation aufgeben, reale Möglichkeiten für legale Migration schaffen und die Kopplung von Entwicklungsgeldern an die Verhinderung von Migration beenden.“EPC (European Policy Center) [17]
Legale Migrationswege sollten dabei nicht nur den globalen Wettbewerb um Fachkräfte weiter vorantreiben. Es braucht gleichzeitig legale Einreisemöglichkeiten und Schutzgarantieren für niedrig- und mittelqualifizierte Migrant:innen, etwa zu Ausbildungszwecken.
"Die EU sollte eine eigene Seenotrettung im Mittelmeer finanzieren".ECRE (European Council on Refugees and Exiles) [18]
Außerdem müssen Kriminalisierung und Behinderung ziviler Seenotrettung umgehend beendet werden, um dem Sterben ein Ende zu setzen.
Dieses Projekt ist aus einer Zusammenarbeit des Bildungswerkes der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin und der Initiative "Solidarity City Osnabrück" entstanden.
Das Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung ist als grünnahe Landesstiftung ein Forum für offene politische Bildungsarbeit. Ziele der Bildungsarbeit sind die Qualifizierung politischer Diskurse und die Förderung aktiver und kompetenter Teilhabe an Politik. Das Material zum neuen EU-Migrationspakt entstand im Rahmen des Arbeitskreises "Migration und Bewegungsfreiheit", der sich mit politischen Entwicklungen um Migration und Flucht im globalen Kontext auseinandersetzt.
"Solidarity City Osnabrück" organisiert öffentliche Veranstaltungen zu den Themen Migration und Flucht in Osnabrück und unterstützen Menschen, die von Abschiebungen betroffen sind. Die Initiative ist Teil des Solidarity City Netzwerkes, das sich für Städte einsetzt, in der alle Menschen wohnen und arbeiten können und Zugang zu öffentlichen Gütern wie Bildung und Gesundheitsversorgung haben.